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Title

Das Alte und das Neue im "Rappoltsteiner Parzifal". Komplementarität als kohärenzstiftendes Moment in mittelalterlichen Graldichtungen

Author Yen-Chun CHEN
Director of thesis Prof. Dr. Michael Stolz
Co-director of thesis PD Dr. Martin Schubert
Summary of thesis

Der Rappoltsteiner Parzifal (Karlsruhe BLB, Donaueschingen Ms 97) erscheint als ein vielversprechendes Feld für die Erforschung spätmittelalterlicher Literaturpraxis, da sich der Entstehungsprozess und dessen historisches Umfeld präziser als in den meisten Fällen verfolgen lassen. Das gesamte Textprodukt erweist sich jedoch trotz – oder vielleicht gerade wegen – seiner Fülle an Materialien gegenüber literaturwissenschaftlichen Interpretationen als äußerst sperrig. Dies liegt sicherlich daran, dass sich die literarische Tätigkeit der Bearbeiter um Claus Wisse im Wesentlichen auf das Übersetzen und das Reorganisieren altfranzösischer Gralsüberlieferungen verschiedener Provenienz beschränkt. Das Resultat ist höchst komplex und verwirrend; keinesfalls kann dichterische Originalität im Sinne der neuzeitlichen Ästhetik veranschlagt werden.

 

Bekanntlich enthält der im Jahr 1336 fertig gestellte Codex neben Wolframs Parzival, einigen wenigen Versen aus Chrétiens Conte du Graal und Übersetzungen aus dessen altfranzösischen Fortsetzungen noch einige Minnestrophen sowie Zusätze, für die noch keine Quellen ausgemacht werden konnten. Kaum untersucht ist vor allem die Art und Weise, in der die Partien auf der histoire-Ebene miteinander verknüpft worden sind. Die sorgfältige Verzahnung der Textteile, die Dorothee Wittmann-Klemm erstmals aufgelistet hat, deutet auf eine – wie immer auch geartete – ganzheitliche Konzeption. Dagegen sprechen allerdings die verschlungenen und heterogenen Handlungsabschnitte, in denen kein durchgängiges Sujet mehr zu erkennen ist. Die neueren Arbeiten zum Epilog von Sonja Emmerling und Peter Strohschneider haben gezeigt, dass Heterogenität und Widersprüchlichkeit selbst dort stets auf eine signifikante Weise präsent sind. Für das Erzählganze bieten u.a. die von Rainer Warning und Harald Haferland/Armin Schulz in den letzten Jahren postulierten Modelle des ‚paradigmatischen‘ und ‚metonymischen‘ Erzählens eine bereits fortschrittlich entwickelte theoretische Basis. Es hat den Anschein, dass in den mittelalterlichen Epen Geschlossenheit und Offenheit als Textgestaltungsprinzip gleichzeitig vorhanden sind. Diese manifestieren sich in den Wiederholungen und Variationen, die ihrerseits eine ‚lebensnahe‘ Welt konstruieren, deren Bestandteile wohl am treffendsten als ‚komplementär‘ bezeichnet werden können. Die ‚Komplementarität‘ spiegelt sich auch in Gegenüberstellungen der Figuren und in der zyklisch-linearen Raum-Zeit-Struktur. Die Koexistenz solcher an sich autonomen Systeme wird von Fortsetzern – darunter auch denjenigen der Erzählung Chrétiens – aufgegriffen und individuell ausgesponnen.

 

Die hier dargestellte Vorüberlegung soll unter Berücksichtung aktueller Literaturtheorien überprüft und weiter entwickelt werden. Umfassende Textanalysen, die dem Faktor der multiplen ‚Autorschaften‘ Rechnung tragen, sollen ferner v.a. die narrative Kohärenz im Rappoltsteiner Parzifal aufzeigen und somit eine Interpretation, die über die realhistorische Situierung des Textes hinausgeht, ermöglichen.

 

Status
Administrative delay for the defence
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